Vertical Video: Gekommen, um zu bleiben
Die gehen steil: Vertical Videos durchdringen die Medienwelt
Noch vor wenigen Jahren wirkten vertikal aufgenommene Videos ästhetisch unprofessionell. Nicht selten sprach man Smartphone-Usern daher die korrekte Bedienung ihres Endgeräts ab. Befeuert durch Instagram Stories und Reels sowie TikTok sind Formate wie 9:16 heute nicht mehr wegzudenken und entwickeln sich besonders im Social Media-Umfeld längst zum „New Normal“.
Das haben unlängst Content Creator und kreative Filmemacher für sich erkannt und selbst Medienverantwortliche im Spitzensport liefern darauf abgestimmte Inhalte, um schnell zusätzliche Reichweite aufzubauen. Ein Überblick.
Ein paar Zahlen
Die Relevanz von vertikal ausgerichtetem Content wird deutlich, wenn man die Statistik bemüht: Nur sechs Prozent der Bildschirmzeit nutzen wir, dem Mobile Overview Report zu Folge, das Smartphone im Querformat. Oder anders ausgedrückt: mehr als 3,5 Stunden pro Tag halten wir das Gerät vertikal und nur rund acht Minuten horizontal. Das klingt logisch, folgen die meisten Apps doch dem ergonomischeren und natürlicherem Handling-Prinzip im Hochformat. Es liegt also wortwörtlich auf der Hand, dass dem auch der Konsum von Bewegtbildinhalten folgt.
Neben dem rasant gestiegenen Onlinekonsum und der Zeit, die mit Smartphones verbracht wird, dominieren heute zunehmend Social Media Apps wie Facebook, Instagram und TikTok das Nutzerverhalten. So führen Apps für Social Networking, Messenger-Dienste sowie Video & Entertainment die Rangliste der beliebtesten App-Kategorien deutlich an.
Gerade bei Social Media-Apps und den damit verbundenen News-Feeds und Streams ist es wesentlich bequemer, das Smartphone vertikal zu halten. Dies hat wiederum einen starken Einfluss auf die Bewegtbildinhalte.
Schaut man auf einige der jüngsten Zahlen zur Entwicklung des Online-Nutzerverhaltens zum Videokonsum, wird diese Entwicklung noch einmal unterstrichen.
Laut Wistia konsumieren Internetuser 2,6-mal mehr Inhalte bei denen Videos eingebettet sind im Vergleich zu Inhalten ohne Videos.
eMarketer fand heraus, dass mehr als 75% aller online verfügbaren Videos mit Mobilgeräten abgerufen werden.
90 % der Videos, die vertikal angesehen werden, haben eine höhere Abschlussrate im Vergleich zu Videos, die horizontal angesehen werden, so eine Untersuchung von Mediabrix.
Hinzu kommt eine technische Komponente: die Bildschirme von Smartphones sind in den vergangenen Jahren signifikant größer geworden und bei der Medienwiedergabe auf Vollbildmodus ausgelegt. Das macht es wesentlich leichter, Bilddetails auch in der vertikalen Ansicht zu erfassen. Ein weiterer Beleg für die wachsende Beliebtheit vertikal ausgerichteter Videos, ist, dass das UX-Design der Mobile App von YouTube mittlerweile auch für die Bedienung in Hochkant-Ausrichtung optimiert ist.
Selbst Hersteller von TV-Geräten möchten auf den Zug – oder, um im Bild zu bleiben: die aufsteigende Rakete – aufspringen, um insbesondere für die Generation Z attraktiv zu bleiben. So stellte bspw. Samsung bereits 2019 einen drehbaren Smart-TV vor, der wahlweise zum Popcorn-Abend mit traditionellem Cinemascope-Feeling oder zum vertikalen Live-Videochat mit Freunden einlädt.
Storytelling: Umdenken in der Bildsprache
All dies hat für Medienschaffende starke Auswirkungen auf die Kreation, Produktion und Distribution von Bewegtbildinhalten. Denn wer für das Hochformat produzieren möchte, muss umdenken und die individuelle Bildwahrnehmung berücksichtigen will man nicht ausschließlich Dokumentationen über Giraffen oder die schönsten Wolkenkratzer der Erde produzieren. Denn für Vertical Videos gelten eigene Regeln.
Sind wir es von Querformatvideos zum Beispiel gewohnt, dass Handlungen und Bewegungen entlang der horizontalen Achse verlaufen, orientiert sich der visuelle Handlungsstrang bei vertikalen Videos an der senkrechten Achse. Rasante Kameraschwenks können für das Auge schnell verwirrend sein und wichtige Szeneninhalte an den Rändern gehen verloren. Seine Stärken spielen vertikale Videos daher beispielsweise in der Portraitierung, z.B. von Personen und deren Gesichtern, aus.
Ein Filmfestival für Vertical Video
Dass Vertical Video nicht nur im Social Media-Umfeld eine Rolle spielt, sondern auch in der szenischen Produktion Anhänger findet, zeigt das Vertical Film Festival (VFF). Bereits seit 2014 laden die australischen Veranstalter Natasha und Adam Sebire und ihr Non-Profit-Team kreative Filmemacherinnen und -macher in die St Hilda’s Church in den Blue Mountains ein, ihre Hochformat-Filme einer Jury und wachsenden Fangemeinde vorzuführen. Mit internationalen Folgen: das Phänomen breitet sich aus und findet mittlerweile Nachahmer auf der ganzen Welt.
Auch andere Kreativköpfe der Medienbranche experimentierten bereits intensiv mit dem Portraitmodus in der szenischen Produktion. In einer lesenswerten Zusammenfassung hat etwa der norwegische Broadcaster NRK seine ersten Erfahrungswerte einer Vertical Video-Produktion in einer Web-Doku festgehalten.
Vertikale Content-Veredelung
Wer heute Videoinhalte wie Vlogs, Shorts, Werbeclips, Teaser oder Features im Hochformat produzieren möchte, kann auf dafür fähige Software und Apps zurückgreifen. Schnittprogramme stellen dabei längst nicht mehr das Nadelöhr dar. Firmen wie Adobe haben ihr Line-Up für die Produktion von Social Content unlängst erweitert. So hat der kanadische Anbieter mit Premiere Rush eine speziell für Social Content entwickelte Software auf den Markt gebracht. Das Besondere ist, dass Premiere Rush sowohl als Smartphone-App als auch Desktop-Anwendung verfügbar ist und das gesamte Footage in der Cloud gespeichert wird. Dadurch hat man sowohl auf dem Smartphone als auch dem Rechner stets Zugriff auf den letzten Bearbeitungsstand seines Materials und umständliches Transferien der Daten zwischen den Devices entfällt. Neben der Cloud-gestützten Materialveredelung mit verschiedenen Standardwerkzeugen lassen sich Videos mit Premiere Rush außerdem direkt auf TikTok, Instagram, Facebook und YouTube in allen gängigen Bildverhältnissen teilen und oder für eine spätere Ausspielung timen. Werden mehr Tools und Funktionen in der Nachbearbeitung benötigt, können Premiere Rush-Projekte außerdem mit Adobe Premiere Pro synchronisiert und weiterbearbeitet werden.
Ebenfalls spielend einfach, aber mit geringerem Funktionsumfang und weniger Integrationsmöglichkeiten, geht es mit Smartphone Apps wie z.B. Quik von GoPro, Magisto, InShot, Mojo, FilmoraGo oder iMovie.
Vertical Video lässt die Reichweite in die Höhe schnellen
Was zunächst noch eine Domäne der Content Creator aus dem Social Media-Umfeld war, hält mittlerweile auch zunehmend Einzug im medialen Mainstream – und das selbst bis hinauf in den Spitzensport.
Das jüngste Beispiel der Deutschen Fußballliga (DFL) etwa belegt, welch wichtige Rolle Vertical Video beim Reichweitenaufbau und der Gewinnung neuer Zielgruppen spielen kann. So wurde der DFL Supercup 2021 erstmals parallel zum gewohnten TV-Querformat auch im 9:16-Format produziert und übertragen. Basierend auf einem Setup mit insgesamt neun Kameras, speziell für das Vertikal-Format eingesetzt, und einer separaten Produktionsregie, konnten sich die Smartphone-User über spektakuläre Bilder, angepasste Grafiken und Mehrwertinhalte im Hochformat freuen. Der Livestream wurde von den Medienpartnern SAT.1 (ran) in Deutschland, OneFootball in Brasilien sowie Sky in UK und Irland übertragen. SAT.1 verzeichnete auf TikTok rund 450.000 Zuschauerinnen und Zuschauer, OneFootball sogar mehr als 500.000 User und auf einen Schlag über 50.000 neue Follower des TikTok-Kanals.
Die Zahlen sind beeindruckend, wenn man sich vergegenwärtigt, dass gerade bei einer Fußballübertragung zu erwarten wäre, dass die visuelle Attraktivität durch die Breite des Spielfelds und die schnellen Spielszenen im Vertikal-Format leidet. Dass dennoch eine signifikante Reichweite aufgebaut werden kann, zeigt, wie wichtig es ist, auf das Verhalten und die Bedürfnisse der Nutzerinnen und Nutzer einzugehen – selbst dann, wenn es mit vermeintlichen Zugeständnissen beim Bildausschnitt einhergeht.
Social Content Integration in klassischen TV-Formaten
Auch in anderen Live-Situationen hält der Portraitmodus Einzug, etwa als redaktionelles Stilmittel. Bei Newssendungen wird nicht mehr nur auf das von den Reporterteams festgehaltene Videomaterial vom Geschehen vor Ort zurückzugegriffen, sondern gleichsam User Generated Content von Augenzeugen genutzt. Dabei liegt es in der Natur der Dinge – bzw. wörtlich in der Hand des Augenzeugen –, dass diese Inhalte in der Regel fast ausschließlich mit Smartphones und im Hochformat aufgezeichnet werden. Ein Grund für Newssender, ihr Studiodesign zu überdenken und beispielsweise LED-Wände im 9:16-Format in die Studiokulisse zu integrieren, um Social Content optimal in die News-Präsentation einzubetten.
Alle Beispiele belegen eindrucksvoll, wie wichtig es für Medienanbieter geworden ist, anpassungsfähig für das Medienkonsumverhalten von Zuschauerinnen und Zuschauern zu sein. Ob die Erschließung neuer Zielgruppen, die Ausweitung der Reichweite und damit der Werbeerlöse oder die ästhetische Einbettung von vertikal produzierten Inhalten in eigenen Programmformaten: es gilt, gleichermaßen technisch als auch kommerziell auf neue Bedürfnisse mit einer durchlässigen Content-Strategie reagieren zu können – sei es in der Kreation und Produktion, der Media Supply Chain oder im Bereich der Distribution durch Multiformat und Multiplatform Content Delivery.
Foldable Displays – alles auf Anfang oder alles anders?
Mit Foldable Displays in Mobile Devices hält jüngst die nächste Format-Generation Einzug in unseren Alltag. Und wieder ist es der Tech-Riese Samsung, der den Trend etablieren will. So gibt das Galaxy Z Fold3, nachdem man es entfaltet hat, den Blick frei auf ein fast schon quadratisch anmutendes Display im Format 22,5:18. Dagegen wirkt 16:9 bzw. 9:16 fast schon wieder „old-fashioned“, wenngleich Samsung im zugeklappten Zustand die wohlbekannten Bildverhältnisse nach wie vor beibehält.
Inwieweit sich der Trend von Foldable Displays und somit neue Formate und Anforderungen an die Content-Produktion sogar disruptiv auswirken können, wird erst die Zeit zeigen. Für Medienschaffende im gleichermaßen kreativen wie kommerziellen Kontext kann es jedenfalls nicht schaden, diese Entwicklung aufmerksam zu verfolgen. Denn das Beispiel der vertikalen Videos zeigt, mit welcher Dynamik und Durchdringung sich ein Format entwickeln kann – von einem Festival für Enthusiasten in einem 8000-Seelen-Ort in Australien bis zum „Social Media Reach Booster“ auf allen angesagten weltweiten digitalen Plattformen.